St. Pölten, am 2. März 2015
Sehr geehrter Herr Landeshauptmann!
Ihre Aussagen zum Thema Barrierefreiheit in der gestrigen ORF-Pressestunde machen uns betroffen und erschüttern uns zutiefst.

Der erst kürzlich verstorbene, geschätzte deutsche Alt-Bundespräsident, Dr. Richard von Weizsäcker prägte in seiner Weihnachtsansprache (1987!) den Satz „Nicht behindert zu sein ist wahrlich kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann“. Das möchte ich Ihnen zur Ihrer gestrigen Aussage in der Pressestunde zum Thema Barrierefreiheit mit auf den Weg geben. Wir verstehen die Welt nicht mehr, wo bleiben die christlichen Grundwerte, die Sie immer wieder hervorheben und betonen?

Wir hoffen sehr, dass Sie nicht selbst einmal die Erfahrung machen müssen, wie diskriminierend es ist vom einfachsten gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu sein! Wir laden Sie sehr gerne ein, die Welt aus der Sicht eines Menschen mit Behinderung zu erkunden. Rollstuhl, Krücken und Augenbinde stellen wir gerne zur Verfügung! Die gesetzlichen Vorgaben bezüglich Barrierefreiheit so abzuqualifizieren, ist beschämend und verletzen die Menschen mit Behinderung in einem besonders hohen Maß. 2006 trat das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft. Es gab der Wirtschaft dadurch 10 Jahre Zeit, um Gasthäuser, Restaurants, Hotels und Geschäftsräume barrierefrei zu gestalten. Die im Gesetz verankerte Zumutbarkeitsklausel sieht zudem bei wirtschaftlicher Unzumutbarkeit auch Ausnahmen vor. Kein einziges Gasthaus oder kein einziger Greißler wird daher schließen müssen. Die vielgepriesene Wirtshauskultur ist daher keinesfalls gefährdet.
Österreich hat sich mit der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen zur Umsetzung von Barrierefreiheit verpflichtet.

10 % der Bevölkerung sind auf die Barrierefreiheit unbedingt angewiesen. Für 30-40% der Bevölkerung notwendig und für 100% der Bevölkerung ein Vorteil!
Von Barrierefreiheit, dem erleichterten Zugang zu Dienstleistungen und Produkten profitiert daher auch die Wirtschaft in Niederösterreich!

Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Josef Schoisengeyer, Obmann des Club 81 - St.Pölten - Club für Behinderte und Nichtbehinderte - Wirkungsbereich NÖ